Erste-Klasse-Lyrik

In der Reihe „Berlin-Leipzig-Berlin-Leipzig-und so weiter“ präsentieren wir euch unsere Erlebnisse der einwöchigen Ausdauerbahnfahrt zwischen Berlin und Leipzig. Die Woche war ein einziges Gedicht und die abwechslungsreiche Landschaft zwang uns geradezu zur poetischen Verarbeitung. Und so beschlossen wir eine kleine Anthologie herauszugeben. Ein Vorabdruck findet sich auszugsweise hier :

Das Künstlerkollektiv Grantlfant, das die lyrische Fachwelt bereits seit geraumer Zeit in Atem hält, hat wieder zugeschlagen! Wieder dürfen wir Zeuge werden, wie poetische Höhen erklommen und hässliche allegorische Täler durchschritten werden. Lassen wir uns also verzaubern von den Worten, die mit so unglaublicher Kraft und Potenz daherkommen und alles Dagewesene mitzureißen drohen. Worte – ohne sie wären wir lediglich treibende Mollusken im Ozean des Lebens. Doch lassen wir die Autoren selbst eine Einordnung ihrer Gedichte geben: „Mit unserer Kunst versuchen wir die Menschen zu beschenken.“¹

Die beiden Poeten am Werk.

Der Zug raste dahin – sie stand einfach da. Wir in Schwung, in Veränderung – sie ganz still und unbewegt. Wir auf und sie am Rande der Bahntrasse bei Jüterbog. Nichts deutete darauf hin woher sie kam, wohin sie wollte. Geheimnisumweht. Eine halbe Minute hielten wir Blickkontakt, dann war sie verschwunden – mitsamt all ihrer Sehnsüchte, Träume, Ängste und Sorgen. Aber, werter geneigter Leser, lesen Sie selbst:

Kleine dicke Holzwindmühle stehst dort ganz allein,
drehst die Flügel schnell im Wind, niemand kommt hinein.
Keiner holt das frische Mehl, backt ein leck’res Brot.
Kleine dicke Holzwindmühle bald schon bist du tot.

Große schlanke Stahlwindräder regieren nun die Welt,
saub’ren Strom woll’n alle haben. Das ist, was gefällt!
All die Säcke für das Mehl bleiben sicher leer:
kleine dicke Holzwindmühlen braucht bald keiner mehr.

Der kleinen dicken Holzwindmühle in Mellnsdorf, die man vom Zug aus sehen kann, geht’s beschissen. (Photo von Clemensfranz, CC BY-SA 3.0)

Ob wir das Gedicht überhaupt selbstgeschrieben haben, oder ob es nicht bereits vorher im Œuvre der Band bäm boozé auftauchte, wird sich wohl leider nie ganz zweifelsfrei feststellen lassen.

Ebenso rätselhaft ist der genaue Ursprung des Sekretärsgedichts (Grantlfant-Gesamtwerk-Verzeichnis (GGV) Nr. 335). War es einem Überdruss an Kommunikation geschuldet? Dem Wunsch, ein Mitglied einer Berufsgruppe in einen neuen Kontext zu setzen? Oder lediglich das Interesse am Ausgang des Gedankenexperiments, wie es wohl wäre, selbst einen Müllmann als Sekretär zu haben? Das zugehörige poetische Fragment kann sich – wie wir finden – sehen lassen:

Der Müllmann ist mein Sekretär.
Ein Segen für den Schriftverkehr.
Sortiert die Briefe, schmeißt sie weg.
Des Müllmanns Herz: Am rechten Fleck.

Alternativ (B-Seite):
Der Müllmann ist mein Sekretär.
Die Arbeit fällt ihm gar nicht schwer.
Sortiert die Briefe, schreibt zurück.
Der Müllmann ist mein ganzes Glück!

Da keine etwas auf sich haltende Anthologie ohne etwas Unverständliches, etwas Verstörendes auskommt, findet sich auch in dieser Sammlung ein Poem, das den Puls nach oben schießen lässt. Diese Zeilen zu erschaffen verlangte uns einiges ab, hatte aufgrund der erbittert geführten Diskussion und dem Feilschen um jedes einzelne Wort – geradezu jede einzelne Silbe – beinah die Zerrüttung unserer Freundschaft zur Folge. Ob es sich gelohnt hat? Nein. Die Antwort gibt das Gedicht besser selbst:

Was ist es?
Woher weißt du das?
„Das“ was ist „Das“?
Wissen?

Was?

Am Freitag, den 20.11.15 um 23:59:59 Uhr sollte die Gültigkeit unseres Wochentickets erlöschen und damit der große Zauber von einer Woche Non-Stop-Bahnfahren enden. Mit dem Glockenschlag um Mitternacht verwandelten wir uns wieder in gewöhnliche Zweite-Klasse-Menschen/-Kunden zurück. Doch vorher wollten wir noch einmal feiern: die Bahn, die DB-Lounge und natürlich uns selbst! Und so ließen wir uns noch ein letztes Mal in der  uns zur zweiten Heimat gewordenen Lounge in Berlin nieder und diese – dank Internet – unvergessliche Woche noch einmal Revue passieren. Ein großes Glas Sekt und ein Piccolöchen Weizenbier halfen uns dabei, diesen schlechten, aber immerhin selbstgedichteten Lobgesang dem Deutsche Bahn Konzern zuzueignen:

Die Deutsche Bahn ist ein Konzern
den haben wir ganz furchtbar gern.
Er bringt die Leut‘ von A nach B
und zwar ganz schnell: im ICE!

Von B nach A: das schafft er auch,
so ist’s seit 1835 Brauch.
Wir können nix, auch Reimen nicht,
Deutsche Bahn wir ham‘ dich lieb!

Abschlusstrünke

Die vollständige Anthologie soll pünktlich zum Weihnachtsgeschäft in schlechtsortierten Buchhandlungen stehen. Ideal für Kinder, die ihre Eltern mit Gedichten beschenken wollen, aber zu faul zum Selberdichten sind (einfach Namen auf dem Buchcover mit dem eigenen ersetzen), Menschen, Personen oder Andere.


Rezensionen
  • “Ein rasantes Carpaccio, das die Wellen des normativen Ozeans zu schneiden vermag, bevor sie über den Protagonisten brechen können. Selten paarte sich Anmut, Agressivität und Emotionalität in solch orgiastischer Weise.”
    • Fabian Raidscheid

 

  • „Manchmal ist eine Schreibblockade für die Leser ein Segen, das wollen wir nicht vergessen.“
    • Marcel Reich-Ranicki

 

  • „Diese Anthologie ist unbedingt kaufenswert.“
    • Marcel Ranz-Rafiki

¹ Alle Achtung, bisher versuchten ganze drei (3!) Gruppen mit ihrer Kunst überhaupt mal irgendetwas zu machen. Quelle: KLICK